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Udo Eickenberg, Tim Rohrer
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Donnerstag, 15. Dezember 2005

Gewitterzwieback

Eigentlich sollte ich schon lange im Bett sein, denn morgen begann mein fünftes Schuljahr.
Doch dies war wieder einmal eine der Nächte, in denen ich kein Kind mehr war.
Als ich in dieser Nacht mit meiner Mutter immer noch zum Fenster raus schaute, schlief Tim, mein kleiner Bruder, schon lange nebenan. Das war aber nicht der Grund für unser Flüstern.
Es war dieses Leisesein, das sich fast automatisch einstellt, wenn man im Dunkeln ist. Wir hatten das Licht im Wohnzimmer nicht angemacht. Gleich unter dem Fenster stand das Sofa, auf dem wir, mit dem Blick zum Fenster hinaus, knieten. Beide hatten wir die Ellbogen auf der Rückenlehne und die Köpfe in die Hände gestützt.
Meine Mutter aß Zwieback. Das tat sie immer wenn sie nervös war. Bei Gewitter zum Beispiel.
Oft bin ich so mit ihr am Fenster gekniet, wenn es draußen so richtig gewitterte. Dann knusperte sie unaufhörlich und lautstark ihren, Gewitterzwieback, wie sie ihn nannte. Damals glaubte ich sie tue das, damit sie in dieser Stille nicht unverhofft vom Donner und vom Blitz überrascht wurde. Doch genau so wie ich, zuckte sie jedes Mal zusammen wenn ein Grollen niederging.
Heute Nacht sah es allerdings nicht nach Gewitter aus.
Zumindest nicht am Himmel.
Doch die Stimmung war ähnlich, wie vor einem schlimmen Sturm, einem wüsten Orkan oder einem alles vernichtenden Tornado.
Mein Vater.
Wir hatten die Gardinen zur Seite gezogen, und die Jalousien nur soweit herunter gelassen, dass wir gute Sicht auf die Einfahrt hatten. Unser Haus stand quer, und bildete den Abschluss der schmalen Zufahrt zwischen den zwei Häuserreihen, in denen alle Fenster schon lange dunkel waren. Wir stellten beide Fensterflügel schräg. So konnten wir auch das kleinste Geräusch von der Straße hören. Es wirkte irgendwie friedlich da draußen.
Wir wussten beide, dass diese friedliche Nacht, wohl nur für unsere Nachbarn gedacht war.
Sonst machte mich das ständige Kauen und Knuspern meiner Mutter aggressiv, doch heute klang es irgendwie beruhigend. Sie redete unentwegt mit vollem Mund. Erzählte mir ganz nebensächliche Sachen. Ihre Stimme sollte beruhigend auf mich wirken. Aber jedes Wort, und wenn es noch so ruhig war, verriet mir, dass auch sie Angst hatte und verzweifelt war. Manchmal glaubte ich sogar ihre Scham zu hören, wenn ihr bewusst wurde, dass sie hier, mit ihrer knapp zehnjährigen Tochter, auf ihren Mann wartete.
Die Belanglosigkeiten ihres Erzählens täuschten mich schon lange nicht mehr.

Ständig hatte ich jetzt das Gefühl auf die Toilette zu müssen. Wie beim Versteckspiel mit Freundinnen, von denen ich nur wenige hatte, weil ich immer hier zu hause war, bei ihr.
In den kurzen Pausen, die sie beim Reden machte, konnte ich mein Herz schlagen hören. Es klopfte hoch bis zur Kehle. Schnell hustete ich, weil ich dachte sie könnte meine Angst hören. Ich redete nicht viel. So konnte mich auch meine zitternde Stimme nicht verraten. Meine Mutter hätte mich ins Bett geschickt, wenn sie von meiner Angst gewusst hätte. Doch ich musste hier bleiben, es war wichtig für sie. Es beruhigte sie, wenn ich hier mit ihr wartete und ihr zuhörte.

Diese Nächte machten mich trotz Allem stolz. Ich, hier an der Seite meiner Mutter, wo ich ihr eine Hilfe war, sie unterstützte und manchmal sogar Rat für sie hatte. Das waren Momente in denen ich ihr ebenbürtig war, erwachsen und mutig.
Jetzt war in mir kein Platz für Weinen oder Weglaufen, ich konnte es, ich wollte es, stark sein, für sie.

Von weitem hörten wir ein Motorengeräusch. Scheinwerferlicht tauchte vorne an der Straße auf.
Sie unterbrach ihren Satz mitten im Wort.
Ich hielt den Atem an, um die Geräusche von draußen besser zu hören.
Das Licht der Scheinwerfer zog vorbei.
Meine Mutter redete genau mit derselben Silbe weiter, an der sie eben unterbrochen hatte. Wir holten gleichzeitig tief Luft, und unsere Blicke blieben wachsam auf die Straße gerichtet.
Sein letzter Anruf kam vor zwei Stunden. Aus einer Kneipe, das konnte man deutlich hören. Es ist eine Art Spielregel, die er aufgestellt hat. Jede volle Stunde ein Anruf. Jede volle Stunde ein Hinweis darauf, wie ihn der Alkohol veränderte. Das hatte den Vorteil, dass wir fast genau einschätzen konnten wann es los ging. Der Grad seiner Trunkenheit war ein zuverlässiger Barometer für seine Heimkehr. Das Schlimmste daran war dieses schrille Klingeln des Telefons.
Schmerzhaft fuhr mir dieses Geräusch durch die Glieder, und ich war froh wenn meine Mutter schnell den Hörer griff.
Der letzte Anruf vor einer Stunde fiel aus.
Es konnte jetzt also nicht mehr lange dauern.
Ich musste so dringend zur Toilette. Aber was, wenn genau in diesem Moment sein Wagen in die Einfahrt ..?
Egal, ich musste, und lieber jetzt gleich als in zehn Minuten, dachte ich.
Ich fand mich gut zurecht in der dunklen Wohnung, kannte jedes Möbelstück genau, das zum Hindernis hätte werden können. Schnell huschte ich den Flur entlang. Die Schlafzimmertür war nur angelehnt. Flüchtig schaute ich hinein, um zu sehen ob Tim noch schläft.
Er lag unten, in unserem Etagenbett, und er ärgerte sich mindestens einmal die Woche schrecklich darüber, dass ich oben schlafen durfte.
Da lag er jetzt, tief schlafend und bekam zum Glück nichts mit.
Leise öffnete ich die Toilettentür und schob mein Nachthemd hoch. Hastig setzte ich mich hin. Mir war plötzlich schrecklich kalt und ich zitterte. Ich versuchte schnell zu pinkeln.
Nichts.
Es ging einfach nicht. Kein Tropfen wollte kommen, obwohl ich so dringend musste. In Gedanken sagte ich mir: „los komm schon, versuch es, konzentrier dich, es wird gehen.“
Doch nichts geschah. Wie ein fester Knoten hatte sich mein Unterleib zusammengezogen und es tat weh.
Schnell tapste ich zurück ins Wohnzimmer und nahm meine Position auf dem Sofa wieder ein.
„Und ? Warst du auf der Toilette?“
„Ja, alles o.k. hab nur nicht runtergespült, damit der Kleine nicht aufwacht.“
„Gut, Mädchen.“
Durch unser Reden hörten wir den herannahenden Wagen nicht.
Die Einfahrt erhellte sich plötzlich. Blitzschnell zogen wir die Gardinen zu. Bloß schnell weg vom Fenster. Das war wichtig, er durfte nicht sehen, dass wir hier warteten. Mit hastigen Bewegungen richtete ich die Sofakissen wieder zurecht. Meine Mutter schob den Couchtisch an die richtige Stelle zurück und schlüpft in ihre Hausschuhe.
Jeder unserer Handgriffe passte wie bei einer Feuerwehrübung.
„Los, schnell ins Bett mit dir.“ Meine Mutter machte mich auch heute wieder darauf aufmerksam, wie wichtig es jetzt war, mich absolut ruhig zu verhalten. Mein Körper war taub vor Angst, und ich wusste nicht, wie ich die paar Meter ins Schlafzimmer schaffte. Mein Herz raste und mein Atem wurde fast panisch.
Jetzt lag ich oben in meinem Bett. Tim schlief immer noch tief. Ich hoffte so sehr, dass er jetzt nicht aufwachte. Zitternd zog ich die Bettdecke hoch bis ans Kinn. Umdrehen, ich musste mich umdrehen, das Gesicht zur Wand. Wenn ich so lag, konnte mein Vater nicht sehen, wenn meine Augenlider flackerten. Er würde auch heute Nacht noch ins Zimmer kommen, das wusste ich. Er kam immer kurz rein um nach uns zu sehen.
Jetzt kam mein schwierigster Teil der Nacht. Ab jetzt spielte sich die ganze Szenerie für mich nur noch wie ein Hörspiel ab. Nahezu jedes Geräusch, das jetzt zu hören war, kannte ich.
Ich musste mich schlafend stellen. Tief und ruhig Atmen. Die Augen ganz entspannt zulassen. Fest kniff ich meine Augen immer wieder zu, um sie dann geschlossen halten zu können.
Die Wagentür schlug zu. Meine Mutter nahm den Schlüsselbund vom Haken und ging schnell zur Wohnungstür.
Er schloss nie selbst auf, wenn er so nach hause kam. Er läutete immer. Sturm läutete er, jedes Mal.
Dieses Läuten.
Es ging mir wie Strom durch die Glieder, als wäre mein kleiner Körper direkt mit dem Klingeldraht verbunden. Ich zuckte. Einmal, zweimal, das dritte Mal lang.
Jedes Läuten war lang, viel zu lang.
Endlich, meine Mutter hatte die Tür aufgesperrt und ihn reingeholt. Es polterte und krachte. Sicher konnte er kaum noch stehen.
Immer wieder hielt ich den Atem an, um besser zu hören.
Ein lautes Rumpeln. Das war die Stehlampe im Wohnzimmer.
Nicht nur dieses Geräusch konnte ich Möbelstücken zuordnen, die jetzt umfielen, oder die er jetzt aus dem Weg schaffte. Er brüllte plötzlich. Dann kam wieder leises Reden.
Meine Mutter blieb immer ruhig und besonnen. Sie durfte ihn jetzt ja nicht provozieren, das wäre das Schlimmste gewesen. Mit ihre Stimme konnte sie ihn besänftigen, ihre ruhige Art nahm ihm den Wind aus den Segeln.
Beschwichtigend redete sie auf ihn ein, leise, fast zärtlich. Wenn sie ihn jetzt mit ihren Worten im Herzen traf, hatten wir eine Chance, dass es heute schnell vorbei war.
Ich hörte einen dumpfen Schlag. War er gefallen? Oder sie?
Am Klang ihrer Stimme konnte ich erkennen, wie sie versuchte etwas schweres zu heben. Vielleicht lag er auf ihr? Tat er ihr wieder weh?
Die Schmerzen in meinen Armen und Beinen wurden immer schlimmer. Meine Gedanken rasten. Verzweifelt versuchte ich eine Idee zu haben, was ich jetzt tun könnte. Doch ich wusste, wenn ich jetzt raus gehen würde, dann wäre er erst recht wütend. Doch wie konnte ich ihr jetzt helfen?
Die einzige Hilfe die ich ihr jetzt geben konnte war es, ruhig zu sein.
Sie balgten sich am Boden, mal lauter, mal leiser konnte ich es hören. Dann, wieder ein Rumpeln im Flur. Die Schlafzimmertür ging auf. Mit zu vielen Schritten torkelt er herein und machte Licht.
Jetzt galt es völlig ruhig zu atmen, die Augen still zu halten.
Der Geruch von Bier, Schnaps und seinen Arbeitsklamotten, verbreitete sich schnell im Raum. Seltsamerweise mochte ich den Geruch auf eine Art.
Vielleicht weil diese Phase das baldige Ende der Qual bedeutete. Wenn er seine Kinder noch geküsst hatte, war er irgendwie besänftigt und schlief bald darauf ein.
Das Etagenbett wackelte und ich konnte ihn jetzt deutlich riechen. Spürte wie er sich zu mir ins Bett lehnte. Dann fühlte ich seine Bartstoppeln auf der Wange und einen feuchten Kuss. Er beugte sich wankend zu Tim hinunter.
Starr vor Angst war ich, wie erfroren.
Beim Verlassen des Zimmers rempelte er noch einmal an das Bett. Tim schlief so tief, dass er von allem nichts mitbekam. Im Flur krachte es wieder. Das war die Kommode. Die Stimme meines Vaters wurde wieder lauter. Beschwichtigend redete meine Mutter auf ihn ein, und konnte irgendwann seinen Ärger des Mittags zähmen.

An jenem Mittag hatte sie ihm den Stift aus der Hand, als sie sich uneinig waren über die Korrektheit der Heizkostenabrechnung. Sie wiedersprach ihm zweimal. Er schaute sie nur an, mit diesem Blick den wir fürchteten. Da wussten wir, was uns in dieser Nacht erwarten würde.
Ich ging in die Küche, stellte mich auf die Zehenspitzen, und reckte mich hoch bis zum obersten Brett des Küchenschranks.
Dort stand sie immer. Die Packung mit dem Gesicht eines pausbackigen, glücklichen Kindes vorne drauf. Sie fühlte sich noch halb voll an. Ich nahm sie und stellte sie auf den Tisch, die Tüte mit Zwieback.




© by Joyce 08 -04

Wurzeln ohne Grund

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Ein paar kleine Brocken und Steine lösen sich, als ich mich noch etwas näher an den Abgrund ziehe. Bäuchlings liege ich hier und kann jetzt nach unten sehen.
Steil bricht der Fels vor mir ins Nichts. Ich spüre die warme Thermik im Gesicht, wie sie nach oben steigt. Für einen Moment schließe ich die Augen und atme tief ein.
So riecht sie, die Freiheit.
In einem Steinbruch, gleich hier am Rand der Kleinstadt, in der ich seit meiner Geburt lebe, atme ich meine Freiheit.
Sonntags komme ich manchmal hier her. Das Abtragen gewaltiger Kalksteine hat dann Pause, keine Bagger und Raupen, die lärmen. Natürlich ist es verboten hier zu sein. Aus Sicherheitsgründen wurde das Gelände mit hohen Zäunen versehen. Eine Stelle habe ich jedoch gefunden, an der ich hinter die Absperrung gelange. Von hier aus sind es maximal zwei Meter, bis die riesige Felswand steil nach unten bricht.
Stehen kann ich nicht. So dicht am Rand, da wird mir schwindlig. Aber liegen, den Körper ganz flach an den Boden gepresst, und den Kopf über die Kante strecken, das ist ein Wahnsinnsgefühl.
Der Steinbruch ist riesig und gleicht einer kahlen Mondlandschaft. Immer noch werden hier große Mengen Kalkstein entnommen. Doch die Felswand, über der ich liege, steht unter Naturschutz. Vogelschützer haben das in langjährigem Kampf erreicht.
Falken, hier nisten Falken in der gut hundert Meter tiefen Wand.
Deshalb bin ich hier. Es sind viele, und sie ziehen ihre Kreise, lassen sich tief fallen in diesen weißen Kessel aus Stein. Sie lassen sich tragen von den warmen Aufwinden und landen erhaben in kleinen Nischen und Vorsprüngen, wo ihre Nester sind.
Die gellenden, spitzen Schreie, die sie dabei ausstoßen, hallen laut und klar und bereiten mir eine Gänsehaut.
Stundenlang beobachte ich ihren Flug und empfinde jeden Ruf von ihnen als ein Wort an mich.
Meine liegende Position macht es leicht, mir vorzustellen, wie es wäre, mit ihnen zu fliegen. Jetzt aufstehen, dicht vorne an der Kante die Arme ausbreiten, und mich einfach fallen lassen, auf dieses weiche Luftkissen, die Strömung des lauen Sommerwindes unter den gespreizten Flügen fühlen.
Gator sagte mir einmal, es wäre ein gutes Zeichen, Falken zu sehen.
Gator, eigentlich die Kurzform von Alligator. So nannten ihn alle, den Alligator.
Weil er diese Ruhe in sich hatte, diese Schläue und weil er sich in den sumpfigen Armen des Suwannee Rivers auskannte, als wäre er dort als Gator geboren.
Ein typischer Amerikaner eigentlich, doch wenn er in den Sümpfen war, oder beim Fischen, konnte er seine indianische Abstammung nicht verleugnen.
Mein Vater. Ein GI, der Anfang der sechziger in Deutschland stationiert war und sich ein Fräulein mit nach Hause brachte. Meine Mutter verließ ihn damals, als sie schwanger war und brachte mich hier zur Welt. Sie heiratete meinen Stiefvater und alles ging den mehr oder weniger üblichen Weg. Noch bevor ich das – nach Meinung meiner Mutter – richtige Alter hatte, wusste ich, wer mein Vater war.
Die alten Fotos im Schuhkarton wurden jedes Jahr mehr und mehr zu einer Sammlung kleiner Spiegel, in denen ich mein eigenes Gesicht wieder fand. So erfuhr ich langsam immer mehr von ihm. Ich fing an, ihm Briefe zu schreiben. Als ich das erste Mal Antwort bekam war ich glücklich. Im Stillen rechnete ich damit dass er mir schreiben würde, doch seine Reaktion war weit mehr, als die freundliche Geste eines pflichtbewussten Erzeugers.
Schon in seinem ersten Brief, konnte ich seine liebevolle Art spüren. Er freute sich so sehr über seine Tochter und es machte ihn stolz mein Vater zu sein. Seine Zeilen berührten mich tief, besonders als ich erfuhr, dass er noch immer ein Foto von mir in seiner Brieftasche trug, das ihm meine Mutter kurz nach meiner Geburt geschickt hatte.
Erst als ich vierundzwanzig war, hatte ich den Mut seiner Bitte nachzukommen und besuchte ihn. Ich war genau im selben Alter wie meine Mutter damals, als ich mich schließlich mit mulmigem Gefühl in den Flieger nach Georgia, USA, setzte.

Die Jahre bis zu diesem Tag waren jedoch ein sich immer wiederholender Kampf. Der Platz in meiner Familie war mir sicher und mit Liebe und Zuwendung begleitet. Ich hatte einen jüngeren Bruder, meine Mutter, einen Stiefvater, der mich stets als sein leibliches Kind sah. Da waren auch Onkel und Tanten, Großmütter die liebevoll waren.
Doch trotzdem war ich stets anders. Ich wurde als eigenbrötlerisch bezeichnet, war stets für mein Alter zu ernst. Ein melancholisches Kind, eine unnahbare Pubertierende eine eigensinnige, wenn auch beliebte und geschätzte, junge Frau.
Meine Phantasien blieben unverstanden, und auf meine Fragen gab es nie befriedigende Antworten.
Es schien mir, als würde keiner verstehen, was ich meinte und sagte. Ich lernte schnell zu schweigen, mich ihnen gleich zu machen, um nicht ständig aufzufallen, und fand einen Weg in meiner eigenen kleinen Welt zu sein. Eine Welt, die ich mit niemanden teilen konnte, von der keiner etwas wusste.
Mit jedem Jahr wurde es schwerer mein Innerstes, mein Geheimnis, klein zu halten. Es war stets ein Bemühen, etwas in mir unter der Oberfläche zu halten, mit dem sie alle nichts anzufangen wussten. Es war ihnen fremd und manchmal glaubte ich, dass ich selbst ihnen fremd war.
So stand ich zwar mit beiden Beinen im Leben, aber die Zweifel an mir selbst und meinem Sein, wuchsen mit mir auf.

Da stand ich also meinem „Gator“ gegenüber.
Am Flughafen von Atlanta. Ich sah das erstemal in die Augen meines Vaters.
Ein wildfremder Mann stand vor mir, doch in diesem Blick lag mehr Heimat, als ich je zuvor gespürt hatte. Das waren meine Augen, mein Mund, meine Nase, die mich dort erwarteten. Als würde ich das erste Mal wirklich in einen Spiegel schauen.
Genau das waren damals seine Worte, die ich durch seinen amerikanischen Akzent, nur mit Mühe verstanden habe.

Es folgten Wochen, in denen ich wie in einem Traum meine Kindheit mit ihm nachholen konnte.
Wie oft hatte ich mir in dieser Zeit gewünscht, nur für einen Tag lang noch einmal ein kleines Mädchen zu sein und auf seinem Schoss sitzen zu dürfen?
All diese Jahre waren zwar verloren, doch so gut es nur ging, schlossen wir manche klaffende Lücke unser beider Leben. Ich lernte meine Großmutter kennen. Eine zierliche alte Dame mit blaugrauem Haar, immer in pastellfarbenem Kostüm mit passender Handtasche und Schuhen in derselben Farbe. Das selbe Augenpaar blickte mich liebevoll an. Die hohen Wangenknochen unter ihrer alternden Haut betonten die schmalen, mandelförmigen Augen, die so sehr die meinen waren. Sie erzählte mir viel von der Familie, von Zeiten, in denen sie noch in North Carolina lebte, von Zeddekie und Eda Snow, ihren Großeltern cherokianischer Abstammung.
Es war Stolz und Wehmut im Klang ihrer etwas brüchigen Stimme. Doch sie brach das Thema der Vorfahren abrupt ab und widmete sich anderen Themen über die Familie.
Als ich Gator gegenüber erwähnte, dass ich das Gefühl hätte, Grandma spräche nicht gerne über die indianische Abstammung der Familie, erklärte er mir in kurzen Sätzen warum.
Sie hatte nie viel darüber geredet. Es war nicht leicht gewesen in den Südstaaten, als ordentlicher und angesehener Mensch zu leben. Schon gar nicht, wenn indianisches Blut in der Familie floss. Die Familie meiner Großmutter waren gute Südstaatler und zu einem großen Teil verleugneten sie also ihre Wurzeln.
Das erklärte mir, warum ich weder bei meiner Großmutter, noch bei Gator, irgendetwas in deren Wohnungen entdecken konnte, das an die Cherokee erinnerte.
Alles war wie man es von einer gutbürgerlichen Südstaatlerfamilie erwartete. Die Southflag im Flur, und etliche Bilderrahmen auf der Kommode, glücklich lächelnde Highschoolabsolventen und stolze Uniformträger liebevoll aneinander gereiht.
Den Kühlschank schmückten viele bunte Magnete mit Sprüchen wie, God bless America oder Happy Thanks Givin`.
Sie waren redliche Bürger, besuchten die Gottesdienste am Sonntag und Gator wuchs sogar mit einer schwarzen Nani auf. Großmutter erzählte stolz, dass selbst der Sheriff ihren Pineapple upside down, einen umgestürzten Ananaskuchen, liebte.

An einem Sonntag fuhr Gator mit mir in seinem gepflegten Oldsmobil eine Landstraße entlang. Es war Spätsommer, und die Strasse war gesäumt von den Laubbäumen, die so bunte Blätter trugen, wie ich sie vorher noch nie gesehen hatte.
Die Landschaft war beeindruckend. Wald, soweit mein Blick reichte.
Das ist der Indiansummer, erklärte mir mein Vater, mit einem Glanz in den Augen, den ich nie mehr vergaß. Das Autoradio spielte Countrymusic, und ein wenig kam ich mir vor wie in einem kitschigen Film.
Gator sang leise vor sich hin. Crazy, I´m crazy for feeling so blue. Ein alter Patsy Cline Hit in neuer Version.

Mir gefiel es, wie er so zufrieden hinter dem Lenkrad saß. Sein Blick wanderte sanft mal links, mal rechts der Straße entlang. Immer wieder hoben sich seine Augenbrauen, wenn er in die Wipfel der hochgewachsenen Bäume schaute. Ich spürte, wie sehr er diese Gegend liebte.
Wir fuhren zügig, aber nicht zu schnell um die Aussicht zu genießen. Die Straße führte immer gerade aus. Seit langem kam uns kein Wagen entgegen.
Gator fuhr plötzlich langsamer.
Etwas suchend schaute er nach links und bog nach einer Weile in einen schwer befahrbaren Feldweg ein. Ein Stück weiter kamen wir an einen Parkplatz. Hier musste es etwas besonderes geben, denn es waren einige Autos geparkt.
Ein Pow Wow, ein Cherokeetreffen fand statt.
Es war ein buntes Treiben mit Tänzen, die irgendwie amüsant waren, aber nicht die Atmosphäre brachten, die man von einem indianischen Fest erwarten würde. Über Lautsprecher wurden verschiedene Tänze und Gesänge erklärt und es gab einige Stände, an denen man Schmuck und eine Vielzahl an handgefertigten Gegenstände kaufen konnte. Talismane, Traumfänger, Medizinräder, Lederwaren und natürlich jede Menge mit Federn und Perlen geschmückte Kleidungsstücke.
Es schien, dass meine Augen nach einiger Zeit begannen diese Bilder- und Farbenflut zu filtern. Immer wieder entdeckte ich Männer und Frauen in indianischer Tracht, die anders aussahen als die Mehrzahl der Besucher. Sie wirkten nicht maskiert, erschienen mir ganz und gar nicht verkleidet. Ihre Kleidung war nicht so farbenprächtig und nur wenige Federn schmückten sie. Ihre Gesichter strahlten eine zufriedene Gelassenheit aus. Sie beobachteten gütig lächelnd, was um sie herum geschah, ohne sich direkt daran zu beteiligen. Es war ihr Fest, sie waren wohl die Gastgeber.
Mein Vater ging mit mir zu einem der etwas abseits vom Trubel liegenden Zelte, und wir trafen auf einen Indianer, der schon etwas älter war. Auch er trug indianische Kleidung, die weder sehr bunt war, noch einem Kostüm glich. Er hatte ein rotes Tuch eng um den Kopf gewickelt wie einen Turban. An der Schläfe trug er eine braun-weiße Feder. Sie war mit einem Lederband in sein langes, graues Haar geflochten. Es war ein weißes, kragenloses Hemd in schlichter Form, das er zu einer braunen, abgetragenen Lederhose, mit Fransen an den Seiten, trug. Seine Mokassins waren grau und ich sah, dass er sie schon lange trug. Die Form seiner Füße war deutlich zu erkennen, und es sah aus als wären sie nur mit Leder überzogen. Unterhalb der Knie trug er Bänder aus orangefarbenen Perlen, die sich mit blauen und roten Perlen zu einem Muster vereinten.
Gator kannte ihn wohl, denn sie begrüßten sich herzlich. Sie wechselten ein paar Worte, denen ich nicht ganz folgen konnte. Dabei schaute mich der Alte immer wieder eindringlich an. Seine Haut war faltig und schien vom Wetter gegerbt, doch seine Augen leuchteten. Es waren junge, dunkle Augen, die über den hohen Wangenknochen den markantesten Punkt in seinem Gesicht bildeten. Er hatte eine kräftige Nase, sie war breit und eher kurz.
Schließlich wendete sich der alte Indianer ganz zu mir.
Er sah mir tief in die Augen, und lächelte mich mit der Weisheit eines alten Mannes an. Er nahm mein Gesicht in seine großen Hände. Sie waren warm und sehr weich. Langsam führte er seine Finger durch meine Haare und er umschloss meinen Kopf mit sanftem Druck. Mit den Daumen strich er mir über die Wangenknochen und sprach Worte, die ich nicht verstand. Eine Sprache, die mir völlig fremd war. Die Worte die aus seinem Mund kamen, bewegten die schmalen, faltigen Lippen kaum. Es klang schön, und er redete mit unendlich ruhiger und weicher Stimme. Sein Blick ließ dabei meine Augen nicht los.
Dann übersetzte er seine Worte in englisch, und seine Hände hielten die ganze Zeit meinen Kopf, und die Daumen strichen dabei unaufhörlich über meine Wangen. Er sagte, es wäre ein Glück und der Wille des Schöpfers, seine Kinder nach Hause zu führen. Das Blut in unseren Adern spreche in seiner eigene Sprache, und es rufe nach der Quelle. Meine Familie heiße mich willkommen.
Im ersten Moment wusste ich nicht was geschah.
Meinte er mich mit diesen Worten?
Galt diese Begrüßung mir?
Er lächelte Gator und mir zu und ging weg.
Mein Vater versuchte seinen Blick vor mir zu verbergen. Er war gerührt. Er legte seinen Arm um mich und sagte, es wäre ein Freund, ein alter Freund der Familie.
Auf der Heimfahrt sprachen wir nicht viel und Gator sang wieder leise vor sich hin, während wir durch den Indiansummer fuhren.

Diese Wochen vergingen und wir sprachen nicht mehr über die Cherokee. Ich sah viel von den Südstaaten, wir waren in Suwannee, am Golf von Mexiko. Mein Vater wohnte dort oft monatelang, ging fischen und brachte Leute raus auf den Golf, die angeln wollten. Er zeigte mir die schönsten Stellen mit seinem kleinen Motorboot, und einmal fuhren wir bei Nacht, ohne Licht durch die kleine verästelte Mündung des Flusses. Er kannte jeden Winkel, jede Mangrove, die tief übers Wasser ragte, jede seichte Stelle, die er umfahren musste. Dann stellte er den Motor ab und wir schwiegen, lauschten den Geräuschen aus den Sümpfen.
Es war in solchen Momenten nie notwendig viel mit ihm zu reden, ein Stillschweigen, dass sich von selbst erklärte, wie ich es nie wieder bei einem Menschen fand.

Es kam der Schmerz des Abschiedes. Ich konnte diesen Moment kaum ertragen, und als ich meinen Vater weinen sah, brach mir das Herz. Es hatte so viele Jahre gedauert bis wir bei einander sein konnten, und nun mussten wir uns, nach viel zu kurzer Zeit, wieder loslassen.
Dem folgte jedoch noch einige Male die Freude des Wiedersehens. Bei jedem meiner Besuche erfuhr ich mehr über die Cherokee. Doch immer war es eine sporadische Situation, die meine Großmutter oder meinen Vater dazu brachte, mir etwas zu erzählen oder zu zeigen. Nie stellte ich Fragen, nie wollte ich mehr erfahren, als sie von sich aus bereit waren mit mir zu teilen. So zeigte mir meine Großmutter wie man aus Piniennadeln kleine Körbe flechtet, wie die Cherokee cornbread backen oder wie die kleinen bunten Perlen und Federn zu einem Talisman gebunden werden.
Mit Gator war ich noch oft beim Fischen, und sein Schweigen, seine Selbstverständlichkeit und Ruhe, in allem was er tat, hat mir unglaublich viel über ihn und mich erzählt.
Das schlimmste war jedes Mal der Abschied. Es war als reiße man mir das Herz bei lebendigen Leibe aus der Brust. Immer wenn sich das Flugzeug vom Boden abhob, war es wie sterben. Nach der Hälfte des Fluges ungefähr, war der Schmerz erträglicher. Dann freute ich mich auf zu Hause.
Zu Hause.
Ich kam gerne heim zu meiner Familie, egal in welche Richtung das Flugzeug flog.
Diesen immerwiederkehrenden Schmerz konnte ich irgendwann nicht mehr ertragen und der Kontakt brach für einige Jahre ab. Ich hatte meine innere Heimat gefunden und konnte nicht weg von zu Hause. Wir lebten unsere Leben, jeder in seiner eigenen Welt.
Dann kam mein Vater sogar einmal noch nach Deutschland, und ich spürte wie fremd er sich hier fühlte, so fremd wie ich manchmal.
Es war das letzte Mal das ich ihn sah.
Ein paar Jahre später starb er. Die Angst vor dem Schmerz hielt mich damals davon ab zu seinem Begräbnis zu gehen. Die Nachricht kam überraschend, ich war wie gelähmt und konnte nicht reagieren. Ich wollte seinen Tod nicht wahr haben.
Vielleicht wünschte ich mir einfach nur, dass er in mir weiterlebt wie bisher.
Es war sein Wunsch, dass seine Asche auf dem Suwannee River verstreut wird.
Später erfuhr ich, dass Großmutter an diesem Tag unter einem Ärmel eines ihrer pastellfarbenen Kostüme, ein Armband trug. Eines aus orangefarbenen Perlen, die sich mit blauen und roten zu einem Muster vereinten.
Die Farben der Cherokee.

Es ist spät geworden und es dämmert schon.
Ich schiebe mich vorsichtig zurück und richtete mich langsam auf.
Noch immer kreisen die Falken im Steinbruch und ihre Rufe klingen lauter. Dicht am Zaun entlang geh ich den schmalen Weg zurück. Langsam setze ich einen Fuß vor den andern, den Blick auf den Weg gerichtet.
Da liegt sie.
Eine Falkenfeder.
Fast wäre ich draufgetreten, doch in den Mokassins ist mein Schritt etwas behutsamer als sonst.
Ich werde sie in den kleinen Lederbeutel stecken, zu den anderen Federn, über meinem Bett. Dort wo eines der wenigen sichtbaren Zeichen meiner Familie seinen Platz gefunden hat.

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Zuletzt aktualisiert: 3. Jul, 06:47

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